Von Dr. Christine Miller
Wälder sind Sehnsuchtsorte. Wälder sind vielfältige Lebensräume mit ihrer jeweils eigenen Artenvielfalt oder -armut. Wälder werden oft als Kulissen ge- und missbraucht: als Schattenspender für sportliche Aktivitäten, als Partyraum oder als Wellnesszone. Und Wälder sind großflächig das Gewerbegebiet, manchmal Industriezone, der Forstindustrie. Aus dieser Gemengelage setzt sich unser individuelles Waldbild zusammen. Das gilt natürlich auch für Naturschutzorganisationen. Der Blickwinkel auf Wälder mag sich da zwischen verschiedenen Naturschutzvereinen unterscheiden. Wir orientieren uns als „Wildes Bayern e.V.“ in unserer Arbeit und Zielsetzung vor allem zwei Kriterien: Das Konzept von Wäldern als Lebensräume und wichtiges Element heimischer Biodiversität. Wälder sind für uns lebende Systeme, die mit ihrem eigenen Arteninventar mit anderen Systemen in Austausch stehen. Gerade die tierischen Bewohner von Wäldern verweben verschiedene Lebensräume miteinander: kleine Tiere meist auf kurze Distanz, große Arten, wie Huftiere verbinden Nährstoffkreisläufe und genetische Vielfalt zu einem großen und starken Gewebe, das trägt.
Über Jahrtausende haben sich Waldtypen auf unterschiedlichen Standorten immer in Zusammenspiel mit kleinen und großen Pflanzenfressern entwickelt. Bis vor etwa 1000 Jahren waren Elch, Auerochse, Bison und Rothirsch bis zum kleinen Reh elementare Bestandteile von Waldökosystemen. Sie haben die Populationsdynamik von Pflanzen ebenso beeinflusst wie die Beziehungen zwischen Pflanzen. Teilweise haben sie auch den periodischen Wechsel zwischen verschiedenen Wald-Lebensraumtypen begünstigt. Eine „potentiell natürliche Vegetation“ als statischen Naturzustand oder eine „natürliche Sukzession“ kann es heute nicht geben, ohne diese wesentlichen ökologischen Treiber. Das lernen wir auch aus der Urwaldforschung.
Wer Wälder schützen will, muss diese Beziehungen kennen und er muss Wälder leben lassen, das heißt, ihr Reifen, ihr Altern und auch ihre Erneuerung aus Zerfalls- und Kalamitätsflächen ermöglichen. Gerade in der Diskussion um den Erhalt und richtigen Umgang mit Buchenwäldern wird das deutlich. So wenig wie es „den Wald“ gibt, sowenig gibt es den „Buchenwald“ und selbst den einen oder anderen Buchenwald Lebensraumtyp. Weder sind Baumartenanteile auf genaue Prozentzahlen festgeschrieben, noch müssen stets alle Altersklassen auf jeder Fläche vorhanden sein. Und jeder Einfluss der restlichen, heute noch natürlich vorkommenden Huftiere wird unter diesem Blickwinkel gerne als „schädlicher“ Einfluss von „überhöhten Wilddichten“ kategorisiert. Nichts könnte naturferner sein! Diese Sichtweise kommt aus einer rein forstwirtschaftlichen, verengten sektoralen Betrachtungsweise und verkennt, was ein (Buchen)Wald-Lebensraum von Natur aus ist.
Wälder brauchen Raum und Zeit. Den Raum um sich mit all ihren Arten, die darin vorkommen und diese – zeitweise – nutzen immer neu entwickeln zu können. Raum, damit vitale Populationen langfristig überleben können, Raum für Randbereiche und Verbindungszonen zwischen Offenland und Wald, Raum auch für Korridore, die den Austausch zwischen verschiedenen Waldbereichen mit Hilfe wandernder Tierarten ermöglichen. Und sie brauchen Zeit, damit sie, wenigstens in Teilbereichen alt werden können und zerfallen. Und nur dort, wo der Wald für einige Zeit kein Wald mehr sein darf kann neuer Wald entstehen.