Von Volker Seifert
Wachteln gelten in vielen Kulturen als Delikatesse: zartes Fleisch, reich an Eiweiß und geschätzt in der Wildküche. Doch was viele nicht wissen – unter bestimmten Umständen kann der Verzehr von Wachteln beim Menschen schwere Vergiftungserscheinungen hervorrufen. Dieses seltene Phänomen ist unter dem medizinischen Begriff Coturnismus bekannt.
Was ist Coturnismus?
Coturnismus ist eine akute Muskelerkrankung, genauer eine toxische Rhabdomyolyse, die durch den Verzehr von Wachtelfleisch ausgelöst werden kann. Dabei kommt es zur Auflösung von Muskelzellen, was zu starken Muskelschmerzen, Schwäche, dunklem Urin (Myoglobinurie) und in schweren Fällen zu Nierenversagen führen kann. Die Symptome treten typischerweise einige Stunden nach dem Verzehr auf.
Ursache: Pflanzen, nicht der Vogel selbst
Wachteln sind von Natur aus nicht giftig – das Problem liegt in ihrer Ernährung. Wildlebende Wachteln, insbesondere die Europäische Wachtel (Coturnix coturnix), ernähren sich während ihrer saisonalen Wanderungen unter anderem von Samen und Pflanzenteilen, die für den Menschen toxisch sind. Hierzu zählen insbesondere Schwarzes Bilsenkraut (Hyoscyamus niger), ein Nachtschattengewächs, sowie andere Alkaloid-haltige Pflanzen. Diese Toxine reichern sich im Muskelgewebe der Wachtel an, ohne dass der Vogel selbst Schaden nimmt.
Pflanzen, die mit Coturnismus in Verbindung gebracht werden
1. Schwarzes Bilsenkraut (Hyoscyamus niger)
-
Wirkstoffe: Tropanalkaloide wie Hyoscyamin, Scopolamin, Atropin
-
Giftwirkung: Anticholinerg (zentrale Erregung, Halluzinationen, Muskelkrämpfe)
-
Bedeutung für Coturnismus: Gilt als Hauptverursacher in vielen historischen und modernen Fallberichten
2. Stechapfel (Datura stramonium)
-
Wirkstoffe: Ebenfalls Tropanalkaloide
-
Wirkung: Wie beim Bilsenkraut, aber zusätzlich stark delirant
-
Gefahr: Samen können in Getreidefeldern vorkommen, wo Wachteln nach Nahrung suchen
3. Tollkirsche (Atropa belladonna)
-
Wirkstoffe: Atropin, Scopolamin, Hyoscyamin
-
Bedeutung: Möglich, aber seltener – mehr in höheren Lagen oder lichten Wäldern
4. Herbstzeitlose (Colchicum autumnale)
-
Wirkstoff: Colchicin – hemmt Zellteilung
-
Wirkung: Hochgiftig, verursacht Zellschädigung, v. a. an Darm und Knochenmark
-
Relevanz: Eher hypothetisch im Kontext Coturnismus, aber möglich bei Bodensuche
5. Mutterkorn (Ergot) – Claviceps purpurea
-
Pilz auf Roggenähren, enthält Ergotamin, Ergometrin
-
Vergiftung: Krämpfe, Halluzinationen, Durchblutungsstörungen (Ergotismus)
-
Vermutung: Bei Wachteln im Umfeld von Getreidefeldern denkbar
Weiterhin stehen die Samen des Schierlings, die Hemlocktanne, Helleborus sowie die Samen des Einjährigen Wundkrauts im Verdacht.
Viele Vogelarten, darunter Wachteln, sind resistent gegen bestimmte Pflanzenalkaloide. Ihre Verdauung und Entgiftungssysteme ermöglichen es ihnen, diese Substanzen ohne klinische Symptome zu verarbeiten. Die Gifte werden allerdings nicht vollständig abgebaut – sie lagern sich im Muskelgewebe ab und können für Säugetiere toxisch sein.
Vorkommen & Historischer Hintergrund
Coturnismus ist ein bekanntes, aber seltenes Phänomen, vor allem im Mittelmeerraum, im Nahen Osten und in Nordafrika. Historische Berichte reichen bis in die Antike zurück: Schon Plinius der Ältere beschrieb die merkwürdige Krankheit nach dem Wachtelverzehr. Besonders betroffen waren Wanderer, Soldaten oder Jäger, die während der Wachtelzüge auf lokal gefangene Tiere zurückgriffen.
Auch in der Bibel (4. Buch Mose) wird eine Episode beschrieben, in der nach einem Massenverzehr von Wachteln Krankheit und Tod unter den Israeliten ausbrach – von manchen Historikern als möglicher Fall von Coturnismus interpretiert.
Auffällig ist: Wildlebende Wachteln sind außerhalb der Zugzeit nie giftig. Biologen stellten jedoch fest, dass das Risiko einer Vergiftung offenbar stark von der jeweiligen Zugroute und der Jahreszeit abhängt.
So nutzen europäische Wachteln drei Hauptflugrouten auf ihren saisonalen Wanderungen. Aus historischen Aufzeichnungen des 20. Jahrhunderts geht hervor, dass diese Routen unterschiedlich hohe Vergiftungsrisiken bergen. Der westliche Zugweg, der über Algerien nach Frankreich führt, ist nur während des Frühjahrszugs mit Vergiftungen verbunden – beim Rückzug im Herbst hingegen nicht. Umgekehrt zeigt sich bei der östlichen Route durch das Niltal ein erhöhtes Risiko im Herbst, kurz bevor die Vögel das Mittelmeer überqueren. Die zentrale und am häufigsten genutzte Flugroute durch Italien wiederum gilt als unauffällig – hier wurden bislang keine Vergiftungen dokumentiert.
Risiko heute
Heutzutage ist Coturnismus extrem selten, da die meisten im Handel erhältlichen Wachteln aus kontrollierter Zucht stammen und mit unbedenklichem Futter ernährt werden. Das Risiko besteht vor allem beim Verzehr wildgefangener Wachteln, insbesondere in Regionen und zu Jahreszeiten, in denen das Vorkommen toxischer Pflanzen hoch ist.
Symptome und Behandlung
Die Erkrankung beginnt meist mit:
-
Muskelschmerzen (vor allem in den Oberschenkeln)
-
Schwächegefühl, steifer Gang
-
Dunkelfärbung des Urins (durch Myoglobin)
-
In schweren Fällen: Übelkeit, Erbrechen, Herzrhythmusstörungen, Nierenversagen
Die Behandlung ist symptomatisch: Flüssigkeitszufuhr, Überwachung der Nierenfunktion, ggf. Dialyse.
Fazit
Wachteln sind im Allgemeinen ein sicheres und schmackhaftes Wildgericht – unter der Voraussetzung, dass sie aus vertrauenswürdigen Quellen stammen. Das seltene, aber reale Risiko des Coturnismus erinnert daran, wie eng Ernährung, Umwelt und Tierverhalten miteinander verknüpft sind. Für Jägerinnen, Jäger und Feinschmecker gilt daher: Wildvögel mit Bedacht genießen – und im Zweifelsfall auf Aufzuchtvögel zurückgreifen.