Von Gert G. von Harling

Mit den Ausdrücken „Wahlabschuss“, „Notabschuss“, „Reduktionsabschuss“, „Ernteabschuss“ aber auch „Totalabschuss“ und „Fehlabschuss“ habe ich keine Probleme. Sie fallen unter den jagdlichen Sammelbegriff „Hege mit der Büchse“. Schwierigkeiten habe ich jedoch mit dem gängigen „Hegeabschuss“ unter der gleichen Kategorie. Die Definition ist klar: Ein Stück das wegen schlechter Entwicklung, Krankheit, Verletzung, Schwäche, hohen Alters leidet oder sich nicht vererben soll, soll im Rahmen der Hege bevorzugt erlegt werden, um den Wildbestand gesund zu erhalten.

Was aber sind einwandfreie Kriterien für einen wirklichen Hegeabschuss und was nicht? Ich tue mich manchmal schwer, es zu beurteilen. Eine verantwortungsvolle, letztendlich richtige Entscheidung zwischen „Schonen“ oder „Schießen“ kann sehr, sehr schwierig sein. Die Grenzen liegen im Ermessen des Jägers. Die Spannweite zwischen notwendiger Erlösung und Rechtfertigung ungezügelter Schussgier, zwischen fadenscheiniger Verbrämung und guter Tat, ist groß. Auf jeden Fall bewegen wir uns bei der Entscheidung „Hegeabschuss oder nicht“ in einem weiten Feld mit großer Verantwortung.

Wegen regional zu hoher Vermehrung, temporärer Schäden, einer (fast verheilten) Wunde oder einer abnormen Trophäe muss man nicht immer sofort den Finger krumm machen. Ein Stück Wild kann, wie folgende Beobachtungen beweisen, sowohl mit leichten Verletzungen als auch mit einem abnormen Geweih oder Gehörn sehr wohl leben.

Einem Bockkitz wurde Anfang Juni der Vorderlauf abgemäht, der Landwirt trug den schweißenden und klagenden Winzling zum Waldrand, mähte weiter und informierte mich erst einen Tag später. Unsere Suche nach dem schwer verletzten Reh blieb erfolglos. Erst im Spätsommer beobachtete ich es, und zwar auf der Wiese, auf der es „verstümmelt“ wurde. Es war nicht abgekommen, bewegte sich auf den verbliebenen drei Läufen wie andere Rehe auch und wurde später im Jahr im Sprung akzeptiert.

Im darauffolgenden Frühjahr hatte der Jährling trotz seiner Verletzung ein respektables regelmäßiges Sechsergehörn geschoben. Im Jahr darauf nahm er aktiv an der Brunft teil und wurde im folgenden Jahr noch stärker, bis er von einem Jagdgast, in der festen Überzeugung, ein gutes Werk zu tun, erlegt wurde, weil der nun Vierjährige schonte – Mitleid oder Schussgier?

Ein weiterer „Hegeabschuss“: Eine Gamsgeiss mit abgebrochener Krucke erweckte meine Begehrlichkeiten. Ein Hegeabschuss dachte ich, doch der Berufsjäger bat, die Einkruckige zu schonen. Sie führte nämlich seit mehreren Jahren besonders starke Kitze. Das Unglück nahm seinen Lauf. Ein Jagdgast erlegte die Alte als“ typischen Hegeabschuss“ – Mitgefühl oder Schussgier?

Auf der Landstraße war eine hochbeschlagene Ricke angefahren worden und kam trotz längerer Nachsuche nicht zur Strecke. Sie blieb wie vom Erdboden verschluckt. Als ich sie dann im September endlich wiedersah, führte sie zwei gesunde Kitze und war klapperdürr, ein Bild des Jammers. Freunde rügten mich, weil ich sie nicht samt ihres Nachwuchses „erlöst“ hatte, aber sie stand auf einer Brachfläche im hohen Bewuchs, ein sicherer Schuss war nicht möglich, an eine Trieblette nicht zu denken. Monate später beobachtete ich die junge Ricke wieder. Sie war in ihren Bewegungen zwar eingeschränkt, aber ihr Gesamtzustand erschien ganz normal. In den nächsten drei Jahren setzte sie starke Kitze, ich bin froh, dass ich sie nicht „erlöst“ habe.

Als ein Jagdgast im Mai einen starken Rehbock anschoss, und ich ihn trotz langer Hetze mit meinem Hund nicht zur Strecke brachte, blieb der Starke verschwunden. Erst zur Blattzeit sehe ich ihn wieder. Ein bedauernswerter Anblick, als der Bock über 200 Meter vor mir mit tiefem Windfang suchend über die gemähte Wiese, auf der er drei Monate vorher angeschossen wurde, „hoppelte“. Immer wieder knickte er vorne links ein. Für einen Schuss viel zu weit, aber auf meine Locktöne mit dem Buchenblatt stand der Bock zu, torkelte in meine Richtung. Plötzlich verhoffte er und dann erhob sich vor ihm eine Ricke aus dem Gras. Der Schwerkranke folgte ihr erst schwerfällig, dann schneller werdend, und beschlug sie. Danach taten sich beide Stücke nieder und verschwanden nach zehn Minuten im angrenzenden Bestand. Ich war so beeindruckt von der Lebensenergie des Bockes, dass ich, als er am Rande noch einmal verhoffte, vergaß die Büchse hoch zu nehmen.

Es ist selbstverständlich, leidende und kümmernde Stücke bevorzugt zu erlegen, ein zerschossener, schlenkernder Vorderlauf ist für mich eine Rechtfertigung, das Stück zu schießen, im Glauben es zu erlösen, es gilt schließlich leiden zu verhindern.

Albert Schweitzer schrieb: „Dass in der Natur ein Geschöpf Leid über das andere bringt und aus Trieb oft in der grausamsten Weise verfährt, ist ein schmerzvolles Geheimnis, das auf uns lastet, so lange wir leben. Wer es fertig bringt, darunter nicht immer wieder aufs Neue zu leiden, hat aufgehört, wirklich Mensch zu sein“.

In dem von Schweitzer gegründeten Urwaldkrankenhaus Lambarene brachte einmal eine Schwester einen kleinen Vogel, dessen Bein fast durchschnitten war und nur noch an einer Sehne hing, zu dem großen Arzt und Philosophen. Ob es geschient werden könne oder ob der Vogel getötet werden müsse, fragte die Frau. „Unsinn“, grollte Schweitzer, „schneid' es ab und verbinde ihn, möchtest du nicht auch mit einem Bein weiterleben, wenn du zwei Flügel hättest?"

Von dem großen Philosophen stammt übrigens auch der Ausspruch: „Wir leben in einem gefährlichen Zeitalter. Der Mensch beherrscht die Natur, bevor er gelernt hat, sich selbst zu beherrschen.“