Von Volker Seifert
Martin Heidegger (* 26. September 1889 in Meßkirch; † 26. Mai 1976 in Freiburg im Breisgau), einer der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts, hat in seinem Werk eine tiefgehende und komplexe Auseinandersetzung mit dem Begriff der „Natur“ geführt. Heideggers Naturbegriff ist im Kontext seiner gesamten Philosophie von entscheidender Bedeutung und steht in enger Verbindung mit seiner Existenzphilosophie, seiner Kritik an der metaphysischen Tradition und seiner Untersuchung der Beziehung zwischen Mensch und Welt. Die Jagd, als eine der ältesten menschlichen Tätigkeiten, kann in Heideggers Begrifflichkeit als ein spannendes Beispiel für die Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur und der Welt verstanden werden. In dieser Abhandlung soll Heideggers Naturbegriff erläutert und seine Anwendung auf die Jagd näher betrachtet werden.
1. Heideggers Naturbegriff
Heidegger steht der traditionellen Auffassung von „Natur“ kritisch gegenüber. In der westlichen Philosophie, die seit der antiken Metaphysik dominiert wird, wird die Natur oft als ein bloßes Objekt betrachtet, das dem Menschen zur Verfügung steht, um es zu beherrschen und auszubeuten. Besonders die moderne Wissenschaft und Technologie haben dazu beigetragen, die Natur als einen „Machbarkeitsraum“ zu sehen, der durch die Instrumentalisierung und Beherrschung des „Naturgeschehens“ kontrolliert wird. Für Heidegger ist diese Sichtweise symptomatisch für die Entfremdung des modernen Menschen von der Welt.
Heidegger kritisiert den naturwissenschaftlichen Begriff von Natur, weil er die Natur auf bloße Materie und mechanische Prozesse reduziert und ihre ursprüngliche Bedeutung und ihr „Sein“ aus dem Blick verliert. In seiner fundamentaleren Auseinandersetzung mit dem Begriff der Natur geht Heidegger davon aus, dass Natur mehr ist als nur das, was der Mensch als „objektive Welt“ wahrnimmt. Die Natur ist in seiner Philosophie ein ursprüngliches, ein „ursprüngliches“ Sein, das sich dem Menschen nicht vollständig erschließen lässt. Sie ist das, was wir in unserer alltäglichen Existenz vorfinden und was sich im „In-der-Welt-Sein“ des Menschen offenbart.
1.1 Das „Sein“ der Natur und das „In-der-Welt-Sein“ des Menschen
In seinem Werk „Sein und Zeit“ (1927) beschreibt Heidegger das „In-der-Welt-Sein“ des Menschen als eine grundsätzliche Eigenschaft des menschlichen Daseins. Der Mensch ist immer schon in die Welt eingebunden und kann sich nur als „Sein“ verstehen, indem er auf die Welt und ihre Dinge verweist. Die Natur ist dabei nicht nur ein äußerer Raum von Dingen, sondern sie ist vielmehr als Teil des gesamten „Seins“ zu verstehen. Der Mensch lebt und handelt in dieser Welt, und seine Wahrnehmung und sein Verständnis der Natur sind untrennbar mit seiner existenziellen Verfassung verbunden.
Die Natur wird bei Heidegger als eine Quelle des „Werdens“ und des „Seins“ begriffen. Sie ist nicht nur ein passives Objekt, sondern ein aktiver Teil des Weltganzen, der dem Menschen in seiner Weltbeziehung begegnet. Heidegger spricht von der „Ereignisgeschichte“ des Seins, in der die Natur und die Dinge immer wieder neue Bedeutungen erlangen, die der Mensch mit seinen Erfahrungen, seiner Geschichte und seiner Sprache in Beziehung setzt. Dabei bleibt die Natur jedoch immer auch etwas, das sich dem vollständigen Verstehen entzieht – sie bleibt im Wesentlichen unzugänglich und geheimnisvoll.
2. Heideggers Kritik an der Technik und die Entfremdung des Menschen von der Natur
Heidegger kritisiert die technologische Denkweise der Moderne als eine Form der Entfremdung des Menschen von der Natur. Die Technik versteht die Natur als einen Vorrat an Rohstoffen, die der Mensch nutzen kann, um seine Zwecke zu erfüllen. Diese Sichtweise der Natur als „Bestand“ führt laut Heidegger zu einer reduzierten und entfremdeten Wahrnehmung der Welt, die nicht mehr in ihrer Ganzheit und ihrem wesenhaften Sein erfahren wird. Der Mensch begreift sich nicht mehr als ein Teil des natürlichen Ganzen, sondern als ein beherrschendes Subjekt, das die Welt in seinen Dienst stellt.
In seiner berühmten Rede „Die Frage nach der Technik“ (1954) beschreibt Heidegger die moderne Technik als eine „Entbergung“ (Hervorbringen) von Dingen, bei der die Dinge aus ihrem ursprünglichen Sein gerissen und in eine Dimension der Nutzung und Verwertung überführt werden. Die Natur wird in dieser Perspektive als etwas behandelt, das nur dann Bedeutung hat, wenn es als „Nutzgegenstand“ dient. Diese Art der Technik ist für Heidegger symptomatisch für den Verlust des „Seins“ und für das Verdrängen einer ursprünglicheren Beziehung zur Welt.
3. Die Jagd als ein aktives Eingreifen in die Natur
Die Jagd als menschliche Aktivität lässt sich in Heideggerscher Perspektive sowohl als ein Moment der Auseinandersetzung mit der Natur als auch als ein Beispiel für das Verständnis von Technik und Entfremdung begreifen. Die Jagd kann als eine ursprüngliche Form des „Eingreifens“ in die Natur verstanden werden. Dabei tritt der Mensch mit der natürlichen Welt in Kontakt, um zu überleben, seine Bedürfnisse zu stillen und sich in der Natur zu behaupten.
3.1 Die Jagd und das „Sein“ der Tiere
In der Jagd begegnet der Mensch der Natur nicht als objektiver, mechanischer Welt, sondern als einem „Werdenden“, das zugleich ein „Sein“ hat. Die Jagd stellt eine Auseinandersetzung mit den Tieren dar, die nicht nur als Objekte der Nahrungsbeschaffung wahrgenommen werden, sondern auch als Teil des „Seins“ und der „Ereignisgeschichte“ der Natur. In der Jagd wird das Tier nicht nur als eine Ressource betrachtet, sondern auch als ein „Anderes“, das einen eigenen Daseinsraum besitzt und in einem geheimnisvollen Zusammenhang mit dem Menschen steht.
In Heideggerscher Terminologie könnte man sagen, dass in der Jagd der Mensch einen „Weg“ zu einem tieferen Verständnis der Natur und ihrer Wesenlichkeit findet. Die Jagd wird dabei nicht nur zu einem praktischen Handeln, sondern auch zu einem Moment der Reflexion über den Platz des Menschen in der Welt und die Bedeutung des „Seins“ der Tiere.
3.2 Die Jagd als „Entbergen“ und „Verbergen“
In der Jagd tritt der Mensch in eine Art „Enthüllung“ (Entbergen) der Natur ein. Doch diese „Enthüllung“ ist nicht einfach eine mechanische oder technologische Ausbeutung der Natur, sondern sie erfolgt in einer ursprünglicheren Weise, die das Geheimnis der Natur bewahren kann. Heidegger spricht von einer „Ereignisgeschichte“, in der das „Sein“ sich immer wieder in neuer Form zeigt. Die Jagd, als ein Akt des Eintauchens in diese „Ereignisgeschichte“, ist nicht nur eine Form der Zerstörung oder des Verbrauchs, sondern auch ein Moment des Respekts und des Staunens gegenüber der Lebendigkeit und dem „Sein“ der Natur.
In dieser Sichtweise stellt sich die Frage nach der Jagd nicht nur als eine ethische, sondern auch als eine existentielle Frage: Wie geht der Mensch mit der Natur um? Wie nimmt er das „Sein“ der Tiere und der Natur wahr? Und wie wird er sich in dieser Beziehung als „Sein“ erkennen?
4. Fazit
Heideggers Naturbegriff, der die Entfremdung des modernen Menschen von der Welt und der Natur thematisiert, bietet einen faszinierenden Ansatz, um die Jagd zu verstehen. Die Jagd ist dabei nicht nur ein praktischer Akt der Nahrungsbeschaffung, sondern auch eine Auseinandersetzung mit der „Ereignisgeschichte“ der Natur und des „Seins“. Sie stellt den Menschen vor die Herausforderung, in einer Welt zu leben, die ihm nicht vollständig zugänglich ist und deren Geheimnis er immer wieder neu erfahren muss. In der Jagd wird die Natur als ein aktiver und dynamischer Prozess verstanden, in dem der Mensch als Teil des Ganzen agiert, ohne je das vollständige „Sein“ der Welt zu erfassen. In diesem Zusammenhang wird die Jagd zu einer existentielle Praxis, die den Menschen zur Reflexion über seinen Platz in der Welt und über das Geheimnis des „Seins“ anregt.