Von Dieter Stahmann
Gegenüber dem ursprünglichen Ziel der Wildbret-Gewinnung ist heute die Jagdleidenschaft die primäre Motivation der Jagd. Für den leidenschaftlichen Jäger steht deshalb die Jagd selbst mit allen ihren Handlungen und Eindrücken als Erlebnis im Vordergrund, nicht das Töten des Tieres, das nur den Abschluss der Jagd darstellt, wie schon Ortega y Gasse festgestellt hat. Erleben bedeutet von etwas betroffen oder beeindruckt werden, etwas auf sich wirken lassen, etwas durchmachen, durchleben oder erfahren. Erleben kann auch ein Bewusstseinsvorgang sein, in dem der Mensch einen wesentlichen Zug des Daseins, eines Gegenstands, Zustands oder Geschehens in seinem ganzen Bedeutungsgehalt und seiner Sinnschwere erfasst – er lernt die Welt und der Jäger die Natur durch das Erleben kennen. Allerdings muss der Jäger dazu auch geistig bereit sein. Wie sagte doch Friedrich von Gagern: „Aufs Erleben, immer nur auf den Geist und die Gnade des Erlebens kommt es an.“ In der DJV-Grundsatzerklärung heißt es: „Jagd ist tiefes Erleben der Natur“.
Man kann unsere Jagd heute aber auch anders sehen. 1992 prägte der Soziologe Gerhard Schulze für Deutschland den Begriff der Erlebnisgesellschaft (negativ: Spaßgesellschaft, Konsumgesellschaft). Er stellte einen Wandel in der Gesellschaft fest, in der auf Grund des gestiegenen allgemeinen Wohlstands die Lebensgestaltung nicht mehr primär von der materiellen und sozialen Lage bestimmt, sondern das Leben weitgehend als Erlebnisprojekt verstanden wird. Dabei orientieren sich die Menschen an vorgegebenen Erlebnis-Mustern, und es entstehen Gemeinschaftsbereiche für bestimmte Erlebens-Interessen, die kommerziell oder auch professionell gestaltet werden. Das angestrebte Erlebnis kann in verschiedener Form stattfinden, vom Einkaufserlebnis bis hin zum Extremsport. Sehr häufig werden Aktivitäten, die ursprünglich einen praktischen Zweck hatten, heute wegen ihres Erlebniswertes betrieben wie Segeln, Reiten oder Motorradfahren und natürlich auch die Jagd. Ist unser altes Weidwerk zum modernen Erlebnisprojekt geworden?
Betrachtet man den Markt für Jagdartikel, Jagdzeitschriften, Jagdreisen, Jagdangebote, Jagdmessen und letztlich Jungjägerkurse, dann kann der Eindruck entstehen, dass hier ein gut ausgebauter Interessenbereich mit einer anerkannten Verbandsorganisation entstanden ist, und dass die Jagd inzwischen genauso als Erlebnisprojekt entwickelt wird wie die anderen aktuellen Erlebnisbereiche. Die ständig steigende Zahl der Jagdscheininhaber zeigt eine erfolgreiche Entwicklung.
Der Soziologie-Professor Schulze sieht die Entstehung der Erlebnisgesellschaft in Deutschland mit einem gesellschaftlichen Wandel verbunden. Ganz offensichtlich hat dieser Wandel auch die Jagd verändert. Der von der Soziologie beschriebenen Wandel liegt aber nicht in der jagdlichen Aktivität, sondern in den Jägern, die wie alle Menschen den Veränderungen des Zeitgeistes ausgesetzt sind. Der Wandel der Jagd zum Erlebnisprojekt ergibt sich aus der weitgehend veränderten Art des Erlebens, das heute für das Naturverständnis durch die Naturwissenschaft und für die Jagdpraxis durch die Technik bestimmt wird. Die Natur wird nicht mehr durch Anschauung und seelische Verarbeitung erfasst, sondern als Rahmen für das projektierte Ereignis gesehen, und das waidmännische Handwerk durch Technik erleichtert und abgesichert. Das Projekt und die Projektierung stehen gegenüber dem Inhalt des Erlebnisses im Vordergrund.
Ein Jagdredakteur sagte mir vor kurzem: Bitte keine Besinnungsaufsätze mehr! Ist unsere Jagd nur noch ein modernes Erlebnisprojekt und unser altes Waidwerk ein vergangener Mythos? Liegt hier der Grund für die moralischen Probleme der heutigen Jagd? Zur Erinnerung nochmal Friedrich von Gagern:„Immer nur auf den Geist und die Gnade des Erlebens kommt es an.“