Von Volker Seifert
Einleitung
Georg Wilhelm Friedrich Hegel (* 27. August 1770 in Stuttgart; † 14. November 1831 in Berlin) entwickelte eine umfassende Philosophie der Natur, die im Kontext seines idealistischen Systems steht. Sein Naturbegriff ist integraler Bestandteil seiner spekulativen Dialektik und bildet die Grundlage für eine Betrachtung der Natur als eine Entfaltung des Geistes (1). Die Jagd, als eine uralte menschliche Praxis, lässt sich vor diesem Hintergrund philosophisch deuten, indem man sie als eine spezifische Form der Beziehung des Menschen zur Natur analysiert.
Hegels Naturbegriff
Hegel behandelt die Natur ausführlich in seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1817), insbesondere im Abschnitt zur Philosophie der Natur (2). Für ihn ist die Natur kein autonomes, in sich geschlossenes System, sondern ein Moment der Entwicklung des Geistes (3). Die Natur ist für Hegel „die Entäußerung des Geistes“ (4), das heißt, sie stellt eine Form der Selbstverwirklichung des Absoluten dar. Sie existiert nicht unabhängig, sondern ist in einem ständigen Prozess der Selbstentwicklung begriffen.
Hegels Naturphilosophie unterscheidet drei Hauptstufen:
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Die Mechanik: Hier wird die Natur in ihrer allgemeinsten, äußerlichsten Form betrachtet. Sie umfasst Raum, Zeit und Materie.
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Die Physik: In dieser Stufe zeigt sich die Natur als ein organisiertes System von Kräften, das durch Gesetze bestimmt wird.
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Die Organik: Dies ist die höchste Stufe der Natur, in der sich Leben entfaltet und schließlich zur Selbstbewusstwerdung im Menschen führt (5).
Die Natur ist nach Hegel in sich unvollkommen, da sie als bloße "Äußerlichkeit" gegenüber dem Geist erscheint. Ihre Vollendung geschieht erst in der Rückkehr zum Geist, insbesondere in Wissenschaft, Kunst und Ethik (6).
Die Jagd im Lichte von Hegels Naturphilosophie
Die Jagd stellt eine spezifische Form der Mensch-Natur-Interaktion dar und kann im Rahmen von Hegels System auf verschiedenen Ebenen betrachtet werden:
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Die Jagd als menschliche Aneignung der Natur
In der Jagd nimmt der Mensch aktiv Einfluss auf die Natur. Er erhebt sich über die bloße Passivität der natürlichen Ordnung und bringt seinen Willen in sie ein. Hegels Dialektik der Natur beinhaltet die Überwindung der bloßen Naturhaftigkeit, was sich in der Jagd als bewusste Auseinandersetzung mit der Natur zeigt (7). -
Die Jagd als Mittel zur Selbstbewusstwerdung
In Hegels Philosophie spielt die Tätigkeit des Menschen eine zentrale Rolle für die Selbstbewusstwerdung (8). Durch die Jagd setzt sich der Mensch mit der Natur auseinander, indem er sie beherrscht, sie aber zugleich als ein Gegenüber erkennt. Diese Dialektik von Herrschaft und Anerkennung spiegelt sich auch in Hegels berühmtem „Herr-Knecht-Verhältnis“ (9) wider: Der Mensch setzt sich über das Tier, indem er es jagt, erkennt aber gleichzeitig seine Abhängigkeit von der Natur. -
Die Jagd als kulturelles Phänomen
Hegel betrachtet den Menschen nicht als bloß natürliches Wesen, sondern als ein Wesen, das Kultur hervorbringt (10). In der Jagd äußert sich nicht nur ein bloß instinktives oder materielles Bedürfnis, sondern auch eine soziale und kulturelle Praxis. Die Jagd hat in vielen Gesellschaften rituelle und symbolische Bedeutungen, die über die bloße Nahrungsbeschaffung hinausgehen. -
Die ethische Dimension der Jagd
Während die Jagd historisch oft als ein Akt der Notwendigkeit verstanden wurde, wirft sie in modernen Gesellschaften Fragen der Ethik auf. In einer hegelschen Perspektive könnte man argumentieren, dass die Jagd dann legitim ist, wenn sie im Einklang mit einem vernünftigen Begriff von Freiheit und Notwendigkeit steht (11). Das bedeutet, dass eine unreflektierte Zerstörung der Natur nicht mit Hegels Philosophie vereinbar wäre, wohl aber eine nachhaltige, bewusste Praxis der Jagd, die das Verhältnis zwischen Mensch und Natur respektiert.
Fazit
Hegels Naturbegriff eröffnet eine tiefere Perspektive auf die Jagd als eine Form der Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur. In der Jagd zeigt sich der Mensch als über die Natur erhabenes, aber zugleich mit ihr verbundenes Wesen. Die Jagd kann als eine dialektische Praxis verstanden werden, in der der Mensch Natur sowohl negiert als auch affirmiert. Eine philosophische Betrachtung nach Hegel kann helfen, die Jagd nicht nur pragmatisch, sondern auch in ihrem geistigen und ethischen Gehalt zu verstehen
- Vgl. Hegel, G. W. F.: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), § 246.
- Ebd., §§ 245–376 (Zweiter Teil: Die Philosophie der Natur).
- Vgl. Houlgate, Stephen: An Introduction to Hegel: Freedom, Truth and History, Oxford 2005, S. 134.
- Hegel, Enzyklopädie (1830), § 248 Zusatz.
- Ebd., Gliederung der Naturphilosophie in Mechanik, Physik, Organik: §§ 267–376.
- Vgl. Düsing, Klaus: Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik, Bonn 1976, S. 88 f.
- Vgl. Pinkard, Terry: Hegel’s Naturalism, Oxford 2012, S. 201.
- Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes (1807), insbes. Kapitel IV.
- Ebd., Kapitel IV.A: „Unabhängigkeit und Abhängigkeit des Selbstbewusstseins: Herrschaft und Knechtschaft“.
- Vgl. Hegel, Enzyklopädie (1830), § 552 ff. zur Rolle des Geistes und der Kultur.
- Vgl. Lauer, Quentin: A Reading of Hegel's Phenomenology of Spirit, New York 1976, S. 245.